Uli

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Glück im Unglück

Dass man vergisst, beim verlassen des Fahrzeugs die Handbremse anzuziehen kann schon mal passieren. Meist wird es noch rechtzeitig bemerkt - und ein kühner Sprung zurück ins Fahrzeuginnere verhindert ein grösseres Malheur. Dem Maschinisten des grossen Toggenburger-Pneukrans gelang dies nicht mehr. Das fast 80 Tonnen schwere Ungetüm kam fahrerlos ins Rollen, kippte über den Strassenrand, rutschte eine steile Böschung hinunter und kam in Seitenlage an einem Einfamilienhaus zum Stillstand.

Bild 1

Nach seiner führerlosen Fahrt kippte der sechsachsige Pneukran seitlich über den Strassenrand und stürzte einen steilen Abhang hinunter.
"Unfall der Superlative" benannte ein Polizeibeamter das Geschehnis in Horgen. Tatsächlich mussten zur Bergung des verunglückten Krans der grösste Pneukran der Schweiz mit 500 Tonnen Hubkraft - und ein zweiter mit 350 Tonnen Hubkraft angefordert werden. Unüblicherweise waren beide Riesenkrane in kürzester Zeit verfügbar, einer, weil er soeben einen Auftrag beendet hatte und der zweite, unterwegs auf der Fahrt an einen Auftrag, konnte per Funk noch rechtzeitig an die Einsiedlerstrasse umdisponiert werden. Passiert war der Unfall früh um sieben Uhr - die eigentliche Bergung begann daher schon in den Mittagsstunden.

Bild 2

Glücklicherweise kam der Kran nach seinem Absturz über das Strassenbord in Schräglage an einer Hausecke zum Stillstand.
Ursachensuche
Über den Unfallhergang schwiegen sich sowohl Polizeibeamte wie Angehörige der Kranfirma Toggenburger, Winterthur/Zürich, dem Verfasser gegenüber zunächst eisern aus. Infolge Fehlens jeglicher Reifenspuren im Strassenbereich kam ein Manövrierfehler des Kranführers nicht in Frage. Blieben also nur vier mögliche Ursachen:
1. Mechanischer Defekt der Federspeicher-Feststellbremse,
2. Betätigungshebel des Federspeichers defekt (oder unbemerkt durch den Fahrer wieder in Lösestellung geschnellt),
3. Fahrer vergass beim Aussteigen das Betätigen der Feststellbremse.
4. Kein Unterlegekeil unterlegt.

Bild 3

Gleiche Lage, anderer Blickwinkel.
Da der Sechsachs-Kran über fünf getrennte Federspeicher verfügt, konnte ein Defekt als Ursache ausgeschlossen werden. Auch der Betätigungshebel funktionierte nach erfolgter Bergung der Maschine einwandfrei (wie auch die einzelnen Federspeicher). Ein Unterlegekeil hätte das Malheur verhindert, diese waren jedoch brav in den Halterungen verstaut. Blieb noch Punkt 3 (und eventuell Punkt 2). Zu diesem Schluss kamen dann auch Beamte des Verkehrstechnischen Zuges der Kantonspolizei Zürich, die den Kran vor seiner - selbsttäntigen - Fahrt in die Reparaturwerkstätte haargenau unter die Lupe nahmen. In der "Amtssprache" heisst es somit: "Ungenügende Sicherung eines abgestellten Fahrzeugs". Augenzeugenaussagen bekräftigten denn auch Variante 3. Offenbar wollte der Kranführer zuerst den Einsatzort zu Fuss erkunden und parkierte die Maschine zunächst in der (dort fast eben verlaufenden) Einsiedlerstrasse. Durch laute Rufe von Anwohnern und Firmenangehörigen aufgeschreckt, konnte er nur noch hilflos zusehen, wie sein Ungetüm rückwärts rollte, den Bordstein überkletterte und sich hangabwärts verabschiedete.

Bild 4

Ein derartiges Vehikel ist nicht dazu konstruiert, selbst durch Krane angehoben zu werden. Für die Bergungsmannschaft daher ein heikles Unterfangen.
Heikle Bergung
Obwohl das Hubvermögen der beiden Rettungskrane ein Vielfaches des Gewichtes des verunfallten Krans ausmachte, war es eine äusserst heikle Operation. Der grosse 500-Tonnen-Kran konnte aus Platzgründen seine Stützen nicht voll ausfahren und der seitlich am Haus klebende Pneukran war nicht dafür konstruiert, an Seilen durch die Luft zu schweben (kleinere Krane verfügen zwecks "Luftverladbarkeit" über spezielle ösen). Also mussten Stahlketten so ums Chassis und das Kran-Heck geführt werden, dass der Kran emporgehievt - und dann in die Horizontale gebracht werden konnte, ohne zusätzlichen Schaden an der Maschine anzurichten. Kritische Hydraulikleitungen wurden zuvor demontiert, sowie der Grossteil des Hydraulikoels durch die Feuerwehr abgepumpt. Der eigentliche Hubvorgang dauerte knapp sieben Minuten, dann stand der Kran wieder auf der Strasse. Der Motor sprang nach einigen erfolglosen Anlassversuchen brav an (sogar ohne Blaurauch!), nur mit den hinteren, gelenkten R�dern stimmte es noch nicht ganz. Da schienen einzelne Spurstangen doch was abbekommen zu haben. Die Toggenburger-Reparaturcrew rückte mit schwerem Werkzeug an, wodurch dann letztendlich alle Räder in Fahrtrichtung zeigten.

Bild 5

Zwei Krane, einer sogar der grösste Pneukran der Schweiz, konnten relativ schnell an der Unfallstelle eintreffen.
Hätte schlimmer ausgehen können
Warum also der Titel "Glück im Unglück"? Nun ja, es hätte ganz anders ausgehen können. Wenn rollende Schwergewichte solcher Art ausser Kontrolle geraten, hört der Spass auf. Wäre der Kran nicht auf die Hausecke, sondern mitten in die Hausmauer gekracht, würde er diese wie Karton eingedrückt haben. Was im schlimmsten Falle den Einsturz des Hauses bewirkt hätte. Das den Fall bremsende Haus verhinderte jedoch den weiteren Absturz des Krans - und vor allem das überschlagen der Maschine in dieser dichtbesiedelten und abschüssigen Gegend. Schliesslich entstand trotz des spektakulären Szenarios lediglich Sachschaden. Sogar der hält sich in - relativ - engen Grenzen.

Bild 6

Kitzlige Millimeterarbeit für die beiden Maschinisten der Bergungskrane, denn der verunfallte Pneukran musste während des Hubvorganges von der Schräglage in die Waagrechte gebracht werden.
Aber es beweist auch wieder die Richtigkeit der u.a. bei Militärmotorfahrern strikte vorgeschriebenen zusätzlichen Sicherung von Fahrzeugen vermittels Unterlegekeilen. Trotz der als absolut "sicher" geltenden Federspeicher-Feststellbremsen. Denn Lastwagen oder Baumaschinen mit Automatikgetriebe verfügen am Schalthebel nicht - wie beispielsweise bei Personenwagen üblich - über eine "Parkstellung" als zusätzliche Wegrollsperre.

Bild 7

Endlich wieder auf der Strasse. Allerlei musste noch demontiert oder gradegebogen werden, bevor der Pneukran in eigener Fahrt zur Reparaturwerkstatt fahren konnte.
Text und Bilder: Ruedi Baumann
 

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